Interview
Jedes Jahr studieren tausende Europäerinnen und Europäer im Rahmen des Erasmus-Programms für eine Zeit im Ausland. Die Initiative Erasmus by Train möchte, dass mehr dieser Studierenden den Zug für die Reisen zwischen den europäischen Ländern nutzen. Wir haben mit Jonathan Hassel von der Initiative gesprochen.
You can find an English version of the article below.
Lieber Jonathan, unsere Leserinnen und Leser freuen sich immer, wenn sich die Interviewpartner zu Beginn kurz vorstellen. Wer bist du und was machst du?
Hallo, ich bin Jonathan, studiere Geographie in Bonn und bin einer der momentan ca. 20 Aktiven hinter der Initiative Erasmus by Train e.V. Uns gibt es offiziell als Verein seit Januar 2020, doch eigentlich ist die Initiative auf einer Sommerakademie in England geboren. Das war eine 9-tägige Konferenz zu Themen rund um die Klimakrise. Konfrontiert mit dieser wahnsinnig großen Herausforderung „Klimakrise“ haben meine neu gefunden Freund:innen und ich nach Möglichkeiten gesucht, wie wir in unserem direkten Umfeld aktiv werden könnten. Bei einer Konferenz in England mit deutschen Teilnehmenden springt einen dann ja das Thema Studierendenmobilität förmlich an. Dass wir den Fokus auf das Erasmus-Programm gelegt haben, war dann das Ergebnis erster Recherchen.
Wenn ich nicht gerade studiere, für meinen Nebenjob arbeite oder Interviews für Erasmus by Train gebe, habe ich jetzt in der Pandemie damit begonnen Tomaten auf meinem Balkon großzuziehen.
Erasmus und auch Interrail sind vermutlich für viele unserer Leserinnen und Leser bekannte Begriffe. Was genau möchtet ihr aber mit eurer Initiative Erasmus by Train erreichen?
Unser Kernziel ist es, dass jede:r Erasmus-Teilnehmende im Bereich Hochschulmobilität ein kostenloses Interrail-Ticket für die An- und Abreise erhält. Momentan werden 75%* der Erasmusreisen nicht nachhaltig mit dem Flugzeug zurückgelegt, gleichzeitig zeigt eine aktuelle Umfrage, dass 47%* aller Europäer:innen gerne weniger fliegen möchten. Diese Differenz lässt sich nur durch die sehr ungünstige Ausgangslage erklären: Es gibt momentan einen großen Preisunterschied zwischen Flugverkehr und grenzüberschreitenden Zügen, der nochmal dadurch verstärkt wird, dass ESN (Erasmus Student Network – Die größte Studierendeninitiative für alle Erasmusstudierenden) einen Deal mit Ryanair hat. Dadurch wird jede Flugreise für Erasmusteilnehmende nochmal 10% günstiger, und ein Gepäckstück darf auch noch gratis mit. Unter solchen „Wettbewerbsbedingungen“ an die Vernunft der oft finanziell klamm aufgestellten Studierenden zu appellieren, wird das Problem der nicht nachhaltigen Mobilität nicht lösen.
Kostenlose Interrail-Tickets für Erasmusstudierende hingegen könnte dieses Problem mit Vorteil für beinahe alle Betroffenen lösen:
Für Studierende ist nachhaltiges Reisen momentan ein Luxusgut. Durch kostenlose Interrailtickets hat jede:r Studierende die Chance das umzusetzen. Das verhindert das finanzielle Ungleichheiten der Teilnehmenden weiter vertieft werden.
Für Europa wäre es auch besser, wenn die Teilnehmenden des weltweit größten Austauschprogramms im Rahmen ihres Austauschs das Friedensprojekt Europa mit offenen Grenzen auch wirklich kennen lernen und nicht nur von Metropole zu Metropole fliegen.
Für Europäische Institutionen wäre es eine echte Chance zu beweisen, dass sie es ernst meinen mit dem European Green Deal. Der jetzt von der Kommission vorgeschlagene 50 Euro Zuschlag für nachhaltiges Reisen für Erasmus wird sicherlich alleine keine Verkehrswende einläuten.
Wer steckt hinter der Idee zu Erasmus by Train? Seid ihr ein internationales Team?
Da wir als ein rein deutsches Team angefangen haben, ist ein Großteil der Mitglieder noch immer deutsch, aber wir arbeiten stetig daran, auch innerhalb des Teams möglichst viele Regionen Europas zu repräsentieren. Interviewanfragen, die keine Deutschkenntnisse verlangen, gehen zum Beispiel an unsere portugiesische Pressesprecherin. Ich hoffe jetzt gerade ganz stark, dass sie mit meinen übersetzten Antworten zufrieden ist.
Schon mehr als zwanzig aktive Mitglieder arbeiten gemeinsam für Erasmus by Train. Bildrechte Erasmus by Train
Viele meiner Freunde und auch ich selbst haben am Erasmus Programm teilgenommen und dabei viele tolle Moment erlebt. Habt ihr einen Überblick darüber, wie viele Studierende in normalen Zeiten mit dem Erasmus-Programm Europa entdecken?
Im Annual Report des Erasmus-Programmes von 2019 werden ca. 336 000 Studierende genannt. Am gesamten Erasmus-Programm nehmen jährlich knapp eine Million Menschen teil, aber das umfasst viele weitere Programmlinien, wie Schüleraustausche, Erwachsenenbildung und neuerdings auch das Discover-EU Programm, das 18-jährigen erlaubt, Europa per Interrail kennen zu lernen. Unsere Forderung bezieht sich jedoch spezifisch auf die Studierenden, die ein Auslandsaufenthalt absolvieren wollen. Diese Aufenthalte sind in der Regel länger, so dass die längeren Reisezeiten mit Bus und Bahn in einem vernünftigen Verhältnis zur Dauer des Aufenthaltes stehen. Das sieht bei internationalen Weiterbildungen für Lehrkräfte an einem Wochenende natürlich anders aus. Demnach zielen wir vorerst nur auf die Hochschulmobilität ab, aber wenn man das Model dann anschließend auf andere Programmlinien übertragen kann, freut uns das natürlich umso mehr.
Wisst ihr auch, für wie viele dieser Studierenden der Zug für die Anreise überhaupt in Frage kommt?
Das hängt natürlich maßgeblich davon ab, wie großzügig das Interrail-Ticket für Erasmusstudierende gestaltet wird. Wenn das Ticket das Reisen über mehrere Tage hinweg mit Zwischenstopps erlaubt, wird es beinahe für alle Teilnehmenden interessant. Natürlich gibt es auch Erasmusteilnehmende aus Malta, Zypern oder Island (Erasmus umfasst auch die nicht EU-Länder Norwegen, Island, Liechtenstein, Schweiz, Türkei) für die es keine Möglichkeit gibt, die Reise ganz ohne Flugzeug anzutreten. Allerdings hoffen wir hier, dass die Verfügbarkeit dieser Tickets eine neue Kultur des europäischen Bahnfahrens unter Studierenden auslösen kann. Dann wäre es für Teilnehmende, die Meer zu überwinden haben, auch denkbar, gar nicht zu ihrem Zielort direkt zu fliegen, sondern die Chance zu nutzen ein Teil Europas mit einem solchen Ticket kennenzulernen.
Wenn das Ticket mehrtägiges Reisen nicht erlauben sollte, wird es für viele Teilnehmende schwierig, davon Gebrauch zu machen, denn wir sind uns trotz unserer Liebe zum Zug darüber bewusst, dass die Schieneninfrastruktur in vielen Teilen Europas einfach noch zu schlecht ausgebaut ist.
Was sind die nächsten Ziele von Erasmus by Train?
Momentan versuchen wir – vor allem trotz Pandemie – das Beste aus dem Europäischen Jahr der Schiene zu machen. Wir erhoffen uns, durch dieses Jahr unser Netzwerk in der europäischen Schienenwelt deutlich zu vergrößern. Gleichzeitig baut eine Untergruppe von uns gerade Verbindungen zu allen internationalen Büros europäischer Universitäten auf. Über dieses Netzwerk versuchen wir auch schon unter heutigen Bedingungen bei Studierenden für nachhaltiges Reisen zu werben. Dafür versenden wir unter anderem gerade Flyer an internationale Büros.
Politisch machen wir darüber hinaus auch klassische „Lobbyarbeit“, das heißt, wir kontaktieren Politiker:innen und EU-Institutionen und sprechen mit ihnen darüber, wie unsere Idee auf europäischer Ebene Wirklichkeit werden kann. Wir hoffen natürlich, dass wir hier bald konkreter werden können und mit einem Pilotprojekt starten dürfen, doch das liegt leider nicht nur in unserer Hand.
Dominik von Erasmus by Train mit neu eingetroffenen Flyern. Bildrechte Erasmus by Train
Bist Du selbst auch schon mit dem Nachtzug verreist? Wohin ging die Reise und wie war dein Erlebnis?
Leider noch nie, aber das steht auf meiner Liste für Post-Pandemie-Pläne ganz oben. Die neuausgebauten ÖBB Strecken erlauben mir hier ja aus Bonn direkt einzusteigen. Allerdings würde ich wahrscheinlich tagsüber nach Amsterdam fahren: Einen Ort, an dem ich schon Mal gelebt habe und an den ich gerne langfristig wieder möchte. Von Amsterdam aus ginge es dann in der ersten Nacht nach Wien und in der nächsten nach Rom. Ich kann es wirklich kaum abwarten.
Hast Du vielleicht zum Ende noch Tipps für die Anreise für Studierende, bei denen bald das Erasmus Auslandssemester ansteht?
Nimm das Abenteuer des langsameren, nachhaltigen Reisens an. Im Studium hat man noch am ehesten Zeit für so eine Reise und ein Trip mit dem Zug mit ein, zwei spannenden Zwischenstopps bleibt dir mit höherer Wahrscheinlichkeit in Erinnerung als zwei Stunden Flug von Frankfurt Hahn aus.
Für ganz konkrete Buchungstipps richten wir gerade eine Informationsseite auf unserer Website* ein mit hilfreichen Links für alle Schwierigkeiten. Bei ganz großen Herausforderungen helfen wir auch gerne individuell bei der Buchung. Dafür bitte einfach eine E-Mail an [email protected] senden. Falls du noch ganz auf der Suche nach Inspiration bist kann ich dir unseren kürzlich veröffentlichten Artikel im Strohbonaut Magazin* empfehlen. Da stellen wir auch Beispielrouten vor.
Vielen Dank für deine Zeit & allzeit gute Reise ?
Mit * markierte Links leiten auf externe Webseiten weiter.
Dear Jonathan, let’s start by introducing you to our readers. Who are you and what do you do?
Hello, I’m Jonathan, I study geography in Bonn, Germany, and I’m one of about 20 people who are currently in the initiative Erasmus by Train e.V. We officially became an association in January 2020, but actually the initiative was born at a summer academy in England in 2019. This was a 9-day conference on topics related to the climate crisis. Confronted with this insanely big challenge, „the climate crisis“, my newfound friends and I were looking for ways to get active in our immediate environment. As Germans attending a conference in England, the topic of student mobility was a very obvious go-to topic. The fact that we focus on the Erasmus program now was only the result of our initial research.
When I’m not studying, doing my part-time job or giving interviews for Erasmus by Train, I’m growing tomatoes on my balcony, a hobby I started during the pandemic.
Erasmus and Interrail are probably familiar terms for many of our readers. But what exactly do you want to achieve with your initiative Erasmus by Train?
Our core goal is for every Erasmus participant in higher education to receive a free Interrail ticket for travel to and from their destination. At the moment, 75%* of Erasmus trips are made unsustainably by air, yet a recent survey showed that 47%* of Europeans would like to fly less. This difference can only be explained by very unfavorable conditions: There is currently a big price difference between airplanes and cross-border trains, which is further amplified by the fact that ESN (Erasmus Student Network – The biggest student initiative for all Erasmus students) has a deal with Ryanair. This means that every flight is 10% cheaper for Erasmus participants, and one piece of luggage is free.
Therefore, addressing the moral implications of flying with students alone, who are often strapped financially, will not solve the problem of unsustainable mobility.
However, free Interrail tickets for Erasmus students could solve this problem with benefits for almost everybody involved:
For students, sustainable travel is currently a luxury good. With free Interrail tickets, every student has the chance to travel sustainably.
It would also be better from a European perspective, as participants in the world’s largest exchange program could really get to experience the European “peace project” by taking advantage of the bloc’s open borders instead of just flying from metropolis to metropolis.
For European institutions, it would be a real chance to prove that they are serious about the European Green Deal. The 50 Euro top-up for sustainable travel for Erasmus students now proposed by the Commission will certainly not lead to sustainable mobility on its own.
Who is behind the idea of Erasmus by Train? Are you an international team?
Since we started as an all-German team, most of the members are still German, but we are constantly trying to represent as many regions of Europe as possible within the team as well. Interview requests that don’t require German language skills, for example, go to our Portuguese press spokesperson. In fact, I hope she’s satisfied with my translated answers.
Many of my friends and I have participated in the Erasmus program and had many great experiences. Do you have an overview of how many students discover Europe with the Erasmus program in normal times?
The Annual Report of the Erasmus program of 2019 mentioned about 336,000 students. The entire Erasmus program, which includes school exchanges, adult education, and more recently the Discover-EU program, which allows 18-year-olds to get to know Europe via Interrail, and other programs, has just under one million participants each year. Our mission, however, is specific to students who want to spend time abroad. These stays are usually longer, so the longer travel times by bus and train are in reasonable proportion to the length of the stay. Of course, this is not the case for international training courses for teachers that take place over a single weekend. Accordingly, we are only targeting university mobility for the time being, but if the model can be transferred to other programs, we will of course be all the more pleased.
Do you also know how many students have trains as an option for their journeys?
Of course, this depends largely on how generous the Interrail ticket for Erasmus students would be. If the ticket allows traveling over several days with stopovers, it will be an option for almost all participants. Of course, there are also Erasmus participants from Malta, Cyprus or Iceland (Erasmus also includes the non-EU countries Norway, Iceland, Liechtenstein, Switzerland and Turkey) for whom it is not possible to travel completely without an airplane. However, we hope in this case that the availability of these tickets can trigger a new culture of European train travel among students. Then it would be conceivable for participants who have to cross the ocean not to fly directly to their destination, but to use their tickets as a chance to get to know another part of Europe.
If the ticket does not allow travel over several days, it would be difficult for many participants to make use of it, because we are aware, despite our love for trains, that the rail infrastructure in many parts of Europe is simply still too poorly developed.
What are the next goals of Erasmus by Train?
At the moment, despite the pandemic, we are trying to make the most of the European Year of Rail. We hope that this opportunity will significantly expand our network in the European rail world. At the same time, a subgroup of ours is currently establishing links with all the international offices of European universities and distributes flyers to them. Through this network, we are already trying to promote sustainable travel among students under today’s conditions.
Politically, we also do classic „lobbying“, i.e. we contact politicians and EU institutions and talk to them about making our idea reality on a European level. Of course, we hope that we will soon be able to be more concrete by, for example, starting a pilot project, but unfortunately this is out of our hands.
Have you already traveled by night train yourself? Where did the trip go and what was your experience like?
Unfortunately, I have not. However, this is at the top of my list of post-pandemic plans. After all, the newly upgraded ÖBB lines allow me to take a night train directly here from Bonn. However, I would probably go to Amsterdam during the day. Amsterdam is a place I have lived before and would like to return to in the long term. From Amsterdam I would go to Vienna the first night and then on to Rome the next night. I really can’t wait.
Finally, do you have any travel tips for students who have an Erasmus semester abroad coming up soon?
Embrace the adventure of slower, sustainable travel. As a student, you do most likely have time for a trip like this, and a trip by train with one or two exciting stops is more likely to stick in your memory than a two-hour flight on a cheap airline.
For specific booking tips, we are currently setting up an information page on our website* with helpful links for all train travel-related difficulties. In the case of very big challenges, we are also happy to help you individually with your booking. For that, please just send an email to [email protected].
Thank you for your time & have a good trip ?
Weitere Infos zu Interrail
Du möchtest noch mehr zum Thema Interrail erfahren? In unserem Blogbeitrag findest Du viele weitere Informationen rund um Interrail und Nachtzüge. Hier geht es zum Blogbeitrag.